An die lyrische Muse
Wohin, wohin reißt mich die strenge Wuth?
Mich auf der Ode kühnen Flügeln,
Fern von der leisen Fluth
Am niedern Helikon und jenen Lorbeer-Hügeln?
Ich fliehe stolz der Sterblichen Revier;
Ich eil in unbeflogne Höhen:
Wie keichet hinter mir
Der Vogel Jupiters, beschämt, mir nachzusehen!
In Gegenden, wo mein entzücktes Ohr
Der Sphären Harmonie verwirret,
O Muse! fleug mir vor,
Du, deren freyer Flug oft irrt, nie sich verirret.
Dir folge dir bald bis zur Sonnen hin,
Bald in den ungebahnten Haynen
Mit Libers Priesterinn,
Wo keine Muse gieng und andre Sterne scheinen.
An deiner Hand, wann mich Lyäus ruft,
Was kann den kühnen Dichter schrecken?
In welch entfernter Kluft
Wird meiner Leyer Scherz ein schlafend Echo wecken?
Denn nur von Lust erklingt mein Saitenspiel,
Und nicht von leichenvollem Sande
Von kriegrischem Gewühl
Und vom gekrönten Sieg im blutigen Gewande.
Die Zeit ist hin, da unter stolzer Lust,
Mit Lorbeern, wie ihr Held, bekränzet
Und oft an seiner Brust
Die Muse Nektar trank, durch die er ewig glänzet:
Wie Phosphor glänzt, der um den Morgenthau
Aus Thetis Armen sich entziehet
Und ans gestirnte Blau
Mit heiterm Lächeln tritt und vom Olympe siehet.
Ein Sternenheer, das letzte Chor der Nacht,
Traurt um ihn her in mattem Lichte:
Die muntre Welt erwacht,
Und Schlaf und Schatten fliehn vor seinem Angesichte.
aus: Lyrische und andere Gedichte von J. P. Uz, verlegt bei Johann Jacob Weitbrecht, Buchhändler im Greifswalde, Leipzig, 1756, S. 36ff.