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Darío de Regoyos y Valdés - Almería en la noche |
Nachtgebet
Fromme Leute, die ihr betet, eh euch Schlaf und Träume wiegen,
Betet nicht für jene Toten, die schon auf der Bahre liegen,
Betet nicht für jene Gäste ewigferner Dunkelheiten,
Die von dieser Welt geschieden durften aus der Hölle schreiten!
Ausgestreckt und mit gekreuzten Armen ruhen sie im Grunde,
Und sie hören alles Werdens heiligste und tiefste Kunde.
Spüren, wie das ungeheure Leben will zum Lichte fließen,
Haben in den Haaren feuchte Wurzeln, draus die Veilchen sprießen,
Halten Stengel in den Händen, die zu hohen Tannen werden —
Still und glücklich sind die Toten, liegen ruhig in der Erden.
Fromme Leute, die ihr betet, wenn die Nacht herabgesunken,
Betet nicht für jene Toten, die der Tiefe Tau getrunken,
Die in Blätter sich verwandeln, die sich wandeln zart in Blüten . . .
Betet nicht für die am Ziel sind, betet für die Wandermüden!
Für die Lebenden dann betet, wenn herabsank Nacht und Schatten:
's ist die Zeit, wo rings die Schlechten schlurfen wie ein Rudel Ratten,
Und es scheint, daß Gott vergessen ganz die armen Lebenssklaven,
Gleich als hätt' er in der dunkeln Himmelsherrscherburg geschlafen.
Betet für die schwangern Mütter, betet für die leichenfahlen
Schädel, die in Spiel und Laster dulden finstre Höllenqualen;
Für die Frau, die ihre Arme öffnet einem Unbekannten,
Für den Dichter, den Dämonen hier in Schmutz und Kot verbannten,
Der den Himmel mit der Seele stürmen will in Blut und Tränen,
Betet für die bleichen Opfer, denen Lazarette gähnen,
Über die im Abendgrauen, schlimmer noch als Todesringen,
Furchtbar sinkt die Schwermut nieder mit den schwarzen Unglücksschwingen;
Für die Liebenden nur betet und beschwört den Herrn der Höhe,
Der, als er die Liebe schuf, schuf des Unglücks tiefstes Wehe.
aus: Weltlyrik, Ein Lebenskreis, Nachdichtungen von Karl Henckell, Die Lese Verlag, München, 1910