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Albert Dürer Lucas - Maiglöckchen |
Das
seltsame Sterben
Laßt
aus frohen Jugendtagen
Euch
mein liebstes Leid berichten:
Seltsam
Sterben eines Freundes,
Das in
trauten Nachtgesichten
Jahrelang
mit mir gewandert.
Eines
Freundes, den ich liebte
Wie
mich selber; den ich kannte,
Meine
zweite Seele nannte.
Still
auf eines Berges Knieen
Lag das
Dörflein. Auf zum Haupte
Stieg
der Knabe jenes Morgens,
Der
sein junges Leben raubte.
Grünten
nicht die Frühlingswälder?
Lag der
Nebel nicht im Tale?
Glänzte
nicht im Sonnenstrahle
Silbern
die betaute Welt?
War es
nicht ein heilger Morgen?
Abends
fand man meinen lieben
Freund
zerschmettert unterm Felsen.
Und die
Rede ist geblieben
In des
Dörfleins stillen Hütten,
Daß er
Maienglöcklein suchte
Und am
Felsen ausgeglitten.
— — — — — — — — —
Besser
weiß ich’s, weil er selber
Oftmals
mir’s im Traum gewiesen.
Und ich
wußt es ohne Träume,
Weil’s
mein Freund war, den ich kannte,
Meine
zweite Seele nannte.
Keiner
sah ihn je auf Bergen
Tollkühn
klettern, lustig wagen.
Und an
jenem klaren Morgen
Nicht
nach Blumen stieg er einsam;
Nur die
Sonne wollt er sehen,
Eh sie
auf den Berg gestiegen!
Ja, dem
Licht entgegenfliegen,
Daß er
früher als die Berge
Aus den
goldnen Bechern trinke,
Glühend
an der höchsten Göttin
Lichtumwob’ne
Knie sinke!
Denn so
war er, so ein Träumer,
Der auf
Wolken weltumreiste,
Der auf
blauen Himmelswiesen
Blumen
pflückte, Sterne küßte,
Nach
dem Licht mit Händen griff!
Und das
Träumen, das er büßte,
War die
einz’ge große Freude
Die das
Leben ihm beschieden
Neben
seinem großen Leide.
Fragt
ihr, wie es denn gekommen? —
Heimlich
dämmerten die Tale.
An den
Bäumen festgeklammert
Stand
er droben, als die Sterne
Blaßten
unterm hellern Strahle.
Leuchtend
malte sich der Osten.
Herrlich
wuchsen goldne Bäume
Aus der
Nacht verträumten Tiefen,
Breiteten
die Flimmeräste
Über
Lande, die noch schliefen.
Und der
Schöpfung kleinste Seele,
Jedes
Blatt am tiefsten Strome,
Hob die
Hände voll Verlangen,
Himmelsfrüchte
zu empfangen.
Aber
meines Freundes Seele
Wollte
hoch ob allen andern
Durch
die klaren Lüfte wandern
Und
zuerst die Sonne sehen!
Und das
Kind vergaß die Erde,
Löste
kühn die schwachen Arme
Von den
Bäumen, stand dort oben
Auf des
Felsens höchster Kante,
Halb
schon in die Luft gehoben. —
Und
dann sprang er in den Himmel. — —
Freundlich
trugen ihn die Lüfte,
Rauschend
grüne Waldesgrüfte
Zogen
meinen Freund ans Herz.
Ja,
sein Leben und sein Lieben
Und
sein seltsam schönes Sterben
Sind
mein liebstes Leid geblieben.
Aus: Paul Haller, Gedichte, Herausgegeben von Erwin Haller, Verlag H. R. Sauerländer & Co., Aarau, 1922