Mädchenlied
Nun ist vorüber die ruhige Zeit,
Meine junge Seele nach deiner schreit,
Ich gehe des Tags so müde einher,
Meine nächtigen Träume sind heiß und schwer.
Ich küss' dich im Traume so viel als ich mag, —
Drum sind meine Lippen so blaß am Tag.
Sie sagten zu mir: »Der Tag ist so heiß, so grün die Flur,
Deine liebsten Blumen, wir brachten sie dir,
Und du küßtest uns nicht einmal dafür,
Du hast vor dich hin ins Leere geschaut —
Und trägst keinen Ring und bist doch nicht Braut?«
Und sie zogen mich fort zu Tanz und Spiel,
Sie sangen so laut und lachten so viel,
Und der Abend über die Felder zog,
Ein irrender Stern am Himmel flog.
Und sie sprachen von Liebe, leise und lang, —
Nur ich ging schweigend die Felder entlang.
Aus: Agnes Miegel, Gedichte, J.G. Cotta Nachf., Stuttgart, 1921.
Abb.: Egon Schiele -Sitzendes Mädchen